…oder: warum wir viel Geld für etwas bezahlen, was wir fast gratis haben könnten.
Deutschland verfügt über eines der besten Leitungswassersysteme der Welt. Es ist streng kontrolliert, umweltschonend und um ein Vielfaches günstiger als abgefülltes Wasser – bis zu 100-mal preiswerter, wie das Umweltbundesamt betont. Dennoch greifen Millionen Deutsche täglich zur Flasche. Dieses Verhalten widerspricht nicht nur ökonomischer Vernunft, sondern auch Umweltzielen. Warum also tun wir das?
Wahrnehmung schlägt Wirklichkeit
Konsumentscheidungen folgen selten reiner Logik. Studien zeigen: Der Geschmack ist der häufigste Grund, der für den Kauf von Flaschenwasser genannt wird. Dabei belegen Blindverkostungen regelmäßig, dass viele Menschen Leitungswasser nicht von Flaschenwasser unterscheiden können – manche bevorzugen sogar das Leitungswasser.
Der Grund dafür liegt in der Psychologie: Erwartungseffekte, der sogenannte „Bestätigungsfehler“ und kognitive Verzerrungen führen dazu, dass die wahrgenommene Qualität mehr zählt als objektive Analysen. Wenn wir glauben, dass Mineralwasser „reiner“ ist, schmeckt es uns auch besser, selbst wenn es dafür keine messbare Grundlage gibt.
Die Rolle der Gewohnheit
Ein zentraler Faktor ist die Macht der Gewohnheit. Wer seit Jahren Flaschenwasser kauft, hinterfragt diese Gewohnheit selten. Untersuchungen zeigen: Wer einmal den „Standard“ festgelegt hat, also beispielsweise regelmäßig Kästen schleppt oder unterwegs zur Flasche greift, bleibt in der Regel dabei, ohne eine neue Abwägung vorzunehmen.
Diese Gewohnheiten sind tief im Alltag verankert und werden sozial bestätigt. Am Konferenztisch, im Restaurant oder im Freundeskreis steht in der Regel Mineralwasser und nicht der Krug mit Leitungswasser. Die sogenannte „Restaurant-Norm“ verstärkt dieses Verhalten. In Deutschland gilt es oft als unhöflich oder ungewöhnlich, Leitungswasser zu bestellen.
Dazu kommt ein Effekt, der in der Psychologie als funktionale Gebundenheit bezeichnet wird. Dieses Phänomen beschreibt die Tendenz, Objekte nur für ihre gewohnte Funktion zu verwenden: Ein Hammer ist für uns ein Werkzeug, um einen Nagel einzuschlagen – weil wir das nun mal in der Regel mit ihm tun. Das man ihn auch als Türstopper verwenden kann, kommt uns nicht sofort in den Sinn. So verhält es sich wohl auch mit dem Leitungswasser: Wer es in der Regel nur es wir zum Händewaschen, Putzen, Geschirrspülen, Duschen verwendet, wird Leitungswasser nicht sofort mit Durstlöschen, Genuss oder Regionalität verbinden.
Gesundheit und das gute Gefühl der Sicherheit
Trotz strenger Vorschriften und hoher Qualität fühlen sich viele Menschen mit Flaschenwasser „sicherer“. Diese Sicherheitsillusion ist weit verbreitet: 22 % der Befragten berichten über vermeintliche Nebenwirkungen von Leitungswasser, obwohl 99 % der Proben alle Grenzwerte einhalten. Die Sorge vor „unsichtbaren Gefahren“, etwa durch Medikamentenrückstände oder Mikroplastik, ist emotional aufgeladen, wird durch Medienberichte verstärkt und rational kaum überprüft.
Diese „Illusion der Überlegenheit“ von Flaschenwasser wird durch Marketingstrategien bewusst gestützt.
Die Macht des Marketing
Mineralwasserhersteller inszenieren ihr Produkt als reines, natürliches und gesundes Lifestyle-Gut. Marken wie Evian, Volvic oder Gerolsteiner erzählen Geschichten von unberührten Quellen, vulkanischer Kraft oder mineralischer Ursprünglichkeit, die oft mit starken Naturbildern und emotional aufgeladenen Botschaften untermalt werden.
Diese Art der Kommunikation unterscheidet sich grundlegend von der Werbung für andere Alltagsprodukte wie Waschmittel oder Pasta. Wasserwerbung ist bildgewaltig, emotional und stark auf Lifestyle, Naturverbundenheit oder Regionalität ausgerichtet, denn das Produkt selbst bietet wenige Differenzierungsmerkmale.
Besonders auffällig ist der sogenannte „Health Halo Effect“: Einzelne positiv konnotierte Begriffe wie „calciumhaltig“ oder „ursprünglich“ führen dazu, dass das gesamte Produkt als gesund wahrgenommen wird – selbst wenn die beworbenen Inhaltsstoffe in ihrer Wirkung für den Körper kaum relevant sein sollten.
Status, Emotion – und der Preis als Qualitätssignal
Inzwischen gibt es Luxuswasser für 17 Euro pro Flasche. Es wird in stylischen Designerflaschen verkauft und häufig von Imagekampagnen mit Prominenten oder Influencern begleitet. Der hohe Preis wirkt dabei paradoxerweise nicht abschreckend, sondern wird zum Signal: Wer so etwas kauft, „kann es sich leisten“. Diese Form des „auffälligen Konsums“ ist weniger rational als symbolisch motiviert. Es geht um Zugehörigkeit, Selbstdarstellung und Image.
Selbst Alltagsmarken nutzen diesen Mechanismus: Schicke Etiketten, regionale Signale, auffällige Glasflaschen, klare Designlinien – Flaschenwasser wird wie Mode- oder Technikprodukte inszeniert.
Der Intention-Behavior Gap
Ein besonders spannendes Phänomen ist die Diskrepanz zwischen Absicht und Verhalten. In Umfragen geben viele Menschen an, der Umwelt zuliebe auf Leitungswasser umsteigen zu wollen, doch die Verkaufszahlen sehen anders aus. In der Psychologie ist so ein Verhalten als „Intention-Behavior Gap“ bekannt.
Was hält uns ab? Es sind Bedürfnisse nach Komfort, soziale Normen und emotionale Heuristiken, die im Alltag stärker wirken als Werte. Der Griff zur Flasche ist oft bequemer, vertrauter und sichtbar. Der Wasserhahn ist unsichtbar und ein Refill-Glas unspektakulär. Flaschenwasser verkauft ein Gefühl, nicht nur eine Flüssigkeit.
Was heißt das für uns als Konsumentinnen und Konsumenten?
Für Konsumentinnen und Konsumenten ist die Getränkewahl weniger eine Frage objektiver Qualität und mehr von subjektiven Wahrnehmung und Gewohnheit beeinflusst. Wer glaubt, dass Mineralwasser automatisch besser ist, wird diesen Eindruck im Alltag auch „schmecken“. Dies macht deutlich, wie stark unsere Entscheidungen durch psychologische Effekte wie Erwartungshaltung, Preis-Qualitäts-Heuristik oder soziale Normen beeinflusst werden.
Für umwelt- und gesundheitsbewusste Verbraucher ist dies eine Chance zur Reflexion: Muss es wirklich das teure Markenwasser sein – oder reicht auch das lokal verfügbare Leitungswasser, das mit einem Sprudler veredelt wurde? Die objektiven Vorteile sind eindeutig: weniger Müll, geringere Kosten und eine vergleichbare Qualität.
Was kann der Verbraucherschutz daraus lernen?
Für den Verbraucherschutz ergeben sich drei zentrale Handlungsfelder:
Aufklärung stärken: Viele Konsumenten kennen die objektive Qualität von Leitungswasser nicht. Informationskampagnen sollten das Vertrauen in die Trinkwasserinfrastruktur stärken und mit Mythen aufräumen, beispielsweise mit dem, dass Mineralien im Wasser unbedingt gesundheitlich notwendig seien.
Verhaltenspsychologie nutzen: Reine Fakten reichen nicht aus. Wer Verhaltensänderungen erreichen will, muss an Routinen, Emotionen und sozialen Normen anknüpfen. Initiativen wie „Refill“-Stationen oder das stilvolle Design von Mehrwegflaschen könnten dabei helfen, nachhaltiges Verhalten attraktiver zu machen.
Marketing regulieren: Eine kritische Auseinandersetzung mit den Werbeversprechen der Wasserindustrie ist notwendig. Wenn „Regionalität” suggeriert wird, obwohl die Region sehr weit gefasst wird, oder wenn Luxuswasser ohne echten Zusatznutzen zu hohen Preisen verkauft wird, sind Transparenz und Kontrolle gefragt.